Zusammenfassung
- Definition:Luxation der Patella aus der Trochlea (Gleitlager des Femurs).
- Häufigkeit:Inzidenz zwischen 2,3 und 5,8 pro 100.000 Einw.
- Symptome:Die Verletzung tritt häufig nach einer Rotation des leicht flektierten Knies auf. Plötzliches Instabilitätsgefühl.
- Befunde:Luxation fast immer nach lateral, jedoch oft spontane Reposition. Anschließend meist Knieschwellung durch Hämarthros.
- Diagnostik:Röntgen als Basisdiagnostik und MRT zur Suche nach Begleitverletzungen obligat.
- Therapie:Individuelle Entscheidung, abhängig von anatomisch-biomechanischen Risikofaktoren und Reluxationsrisiko sowie Begleitverletzungen. Konservativ durch Kräftigung des medialen Quadrizeps. Operativer Standard Augmentation des MPFL (mediales patello-femorales Ligament).
Allgemeine Informationen
Definition
- Luxation der Patella aus der Trochlea (Gleitlager des Femurs), in der Regel nach lateral
Einteilung
- Traumatische Patellaluxation
- durch Sturz aufs Knie oder seitliches Anpralltrauma
- Rezidivierende Patellaluxation
- wiederholte Luxationen oder Subluxationen, meist durch inadäquates Trauma oder Gelegenheitsursache bei vorbestehenden prädispositionellen Faktoren
- Habituelle Patellaluxation
- unwillkürliche Luxation während jedes Bewegungszyklus
- Kongenitale Patellaluxation
- angeboren, meist mit Genu valgum kombiniert
- Neurogene Patellaluxation
- abnormer Zug des M. vastus lateralis quadriceps
- Iatrogene Patellaluxation
- (Sub-)Luxation nach medial nach Behandlung einer lateralen
Instabilität
- (Sub-)Luxation nach medial nach Behandlung einer lateralen
Häufigkeit
- Inzidenz variiert zwischen 2,3 und 5,8 pro 100.000 Einw.
- Macht etwa 2–3 % aller Knieverletzungen aus.
- In der Regel junge, sportlich aktive Patient*innen bei nahezu ausgeglichenem Geschlechterverhältnis
- Hauptmanifestationsalter 10–20 Jahre
- Laut einer Studie sind 21 % der Fälle rezidivierend, bei 16 % lag eine positive Familienanamnese vor, und bei 42 % entstand die Verletzung bei der Ausübung sportlicher Tätigkeiten.1
- Eine angeborene Patellaluxation ist äußerst selten.
Klinische Anatomie
- Die Patella ist ein Sesambein in der Patellarsehne des M. quadriceps femoris, das mit der Trochlea (Gleitrinne) im Oberschenkelknochen artikuliert.
- Die Funktion der Patella ist die Erhöhung der Hebelwirkung des Quadrizeps.
- Sie ist notwendig für eine kraftvolle Extension des Kniegelenks.
- Zieht sich der Musculus quadriceps femoris zusammen, ist die Patella lateralen Kräften ausgesetzt.
- Die lateralen Kräfte überwiegen, da die Tuberositas tibiae als Ansatzpunkt des M. quadriceps femoris lateral des Patellazentrums liegt (siehe auch Q-Winkel).
- Das mediale patellofemorale Ligament (MPFL) wirkt als Stabilisator nach medial.
- Zu Beginn der Flexion (0–20 Grad) beginnt der Lauf der Patella nach distal mit gleichzeitigem Spannungsverlust des MPFL.
- In dieser Stellung, in der die Patella noch nicht die knöcherne Führung der Trochlea erreicht hat, ist sie für die laterale Luxation am anfälligsten.
- Zu Beginn der Flexion (0–20 Grad) beginnt der Lauf der Patella nach distal mit gleichzeitigem Spannungsverlust des MPFL.
Ätiologie und Pathogenese
- Erstluxation der Patella meist bei sportlichen Aktivitäten im 2. Lebensjahrzehnt2
- Luxation fast immer nach lateral, oft mit spontaner Reposition
- Bei der ersten lateralen Luxation wird immer der mediale Bandapparat der Patella verletzt.
- Der häufigste Verletzungsmechanismus ist eine Drehbewegung des Knies, wie sie z. B. beim Tanzen, Turnen, Fußball und Handball vorkommen kann.
- sog. High-Risk-Pivoting-Sportarten
- Die Patella kann auch durch ein direktes Trauma luxieren (selten, ca. 3 %).
Prädisponierende Faktoren
- Trochleadysplasie
- Patellahochstand
- Erhöhter patellarer Tilt
- Erhöhter Abstand der trochleären Rinne zur Tuberositas tibiae (TT-TG Abstand)
- Lateralisierte Tuberositas tibiae
- Genu valgum
- Vermehrte tibiale Außentorsion
- Vermehrte femorale Antetorsion
- Hypoplasie des M. vastus medialis
- Hyperlaxe ligamentäre Führung der Patella
- Straffer lateraler Bandapparat oder Narbe
- Großer Q-Winkel
- Berechnung
- Linie zwischen Spina iliaca anterior superior und Patella-Zentrum
- Linie zwischen Patella-Zentrum und Tuberositas tibiae
- Der Winkel dazwischen ist der Q-Winkel.
- je höher der Q-Winkel, desto größer die lateralisierende Zugkraft durch den M. quadriceps femoris
ICPC-2
- L15 Kniesymptomatik/-beschwerden
- L96 Akuter Kniebinnenschaden
ICD-10
- M22 Krankheiten der Patella
- M22.0 Habituelle Luxation der Patella
- M22.1 Habituelle Subluxation der Patella
- S83.0 Luxation der Patella
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Typische Anamnese und klinische Untersuchung
- Die Diagnose kann schwierig sein, wenn die Patella bereits wieder eingerenkt ist, bevor ärztlicher Kontakt besteht.
Differenzialdiagnosen
- Knieprellung
- Kreuzbandruptur
- Innenbandruptur
- Außenbandruptur
- Patellafraktur
- Kniegelenksluxation
- Patellarsehnenruptur
- Quadrizepssehnenruptur
- Osteochondrosis dissecans
- Meniskusriss
Anamnese
- Beschreibung des Unfallhergangs
- Adäquates Trauma?
- häufig nach einer Rotation des leicht flektierten Knies, z. B. beim Tanzen
- Viele Patient*innen beschreiben ein plötzliches Instabilitätsgefühl.
- Manchmal kommt es fast unmittelbar wieder zu einer Spontan-Reposition, ohne dass den Patient*innen bewusst wird, was passiert ist.
- Schmerzen treten in der Regel medial der Patella auf.
Klinische Untersuchung
- Inspektion: Schwellung, Hämarthros, Fehlstellung, Beinachse,
Fußdeformität, Muskeltrophik, Position der Patella
- möglicherweise vorliegender Torsions- oder Achsfehler2
- Tastbare Lücke am medialen Retinaculum
- Verschieblichkeit und Höhe der Patella im Seitenvergleich
- Beweglichkeit, Bandstabilität, Hyperlaxität
- Untersuchung femorotibiales Gelenk, angrenzende Gelenke und periphere Durchblutung, Motorik, Sensibilität
- Patella-Apprehension-Test (in der Akutsituation oft nicht möglich)
- Anm. d. Redaktion: „ungutes" Gefühl der Patient*innen (Apprehension = Vorahnung) und reflexartige Kontraktion des Quadrizeps bei Verschieben der Patella nach lateral
- Patella-Tracking bei aktiver Flexion und Extension (J-Sign)
- Bei Streckung des Kniegelenkes kommt es zu einer plötzlichen Lateralisation der Patella, einem umgedrehten „J“ ähnlich.2
- Untersuchungsbefund der Gegenseite, Rotationsumfänge an den Hüftgelenken in Bauchlage und der Unterschenkeltorsion
Diagnostik bei Spezialist*innen
Obligat
- Röntgenaufnahmen in mindestens 3 Ebenen
- a. p. Aufnahme des Kniegelenks
- seitliche Aufnahme
- Patella tangential 30 Grad
- Bei akuter Luxation der Patella erfolgt die Röntgendiagnostik erst nach der Reposition.
- MRT mit T2-gewichteten Sequenzen, Knorpelsequenzen und komplett abgebildeter Tuberositas tibiae
- Ausschluss/Nachweis einer Flake-Fraktur
- Beurteilung des Knorpelstatus/Knorpelschäden
- Rupturlokalisation des MPFL
- Beurteilung prädisponierender Luxationsfaktoren
- Ausschluss bzw. Beurteilung von Begleitverletzungen femoro-tibial
Fakultativ
- Weitere Röntgenaufnahmen:
- Patella tangential bds.
- Patella-Defilée-Aufnahmen (30–60–90 Grad)
- Bei klinisch nicht auszuschließender Achsfehlstellung (insbes. valgus)
- Ganzbeinstandaufnahme
- Bei klinisch apparenter Torsionsabweichung
- Torsions-CT oder MRT
- Bei Verdacht auf Fraktur
- Computertomografie
Indikationen zur Überweisung
Checkliste zur Überweisung
Schmerzen im Weichteilgewebe, einschl. vorderer Knieschmerzen und Patellainstabilität
- Zweck der Überweisung
- Diagnostik? Operative Therapie? Sonstiges?
- Anamnese
- Beginn und Dauer? Akut oder chronisch? Verlauf und Entwicklung? Anhaltende Beschwerden?
- Schmerzlokalisation? Schmerzauslösende Situationen? Gelenkschwellung? Gelenkblockaden? Instabilität? Lokalisation der luxierten Patella?
- Sonstige relevante Erkrankungen?
- Regelmäßige Medikamente?
- Konsequenzen? Funktionsverlust? Arbeitsunfähigkeit?
- Arbeitsunfall?
- Klinische Untersuchung
- Schmerzlokalisation? „Blockiertes“ Knie? Schwellungen?
- Lokaler Befund?
- Ergänzende Untersuchungen
- Röntgen
- MRT
Therapie
Therapieziele
- Stabilisierung der Patella zur Verhinderung neuer Luxationen und von Folgeschäden (Arthrose)
Allgemeines zur Therapie
- Zur Therapieplanung ist das Verstehen der anatomisch-biomechanischen Pathologie (MPFL Ruptur, Trochleadysplasie, TT-TG Abstand, Patellahochstand, Knorpelverletzungen, Genu valgum, vermehrte Antetorsion des Femurs, vermehrte Außentorsion der Tibia, kontralaterale Instabilität, Hypermobilität der Gelenke) mit differenzierter kausaler Behandlungsstrategie entscheidend.
- Reposition und konservative Therapie werden in der Regel zuerst versucht, doch das Rezidivrisiko ist hoch.
- Der Nutzen eines frühen operativen Eingriffs ist sehr unsicher. Eine Metaanalyse fand dazu nur wenige Studien von minderwertiger Qualität.3
Akute Patellaluxation
Erste Hilfe
- Es gelten die grundsätzlichen Erste-Hilfe-Prinzipien: Pause, Kühlung, Kompression, Hochlagern.
- Die Patella sollte immer wieder reponiert werden, sofern sie nicht spontan wieder zurückspringt. Vorheriges Röntgen ist nicht zwingend notwendig.
- Ausnahme: Anhalt für Fraktur (z. B. tastbare Stufenbildung, Krepitationen)
- Unmittelbar nach der Luxation kann eine Reposition ohne Betäubung probiert werden.
- Liegt sie bereits einige Zeit zurück, können Analgesie und Sedierung vor der Reposition notwendig sein.
Reposition
- Die Patella kann reponiert werden, indem die betroffene Person mit gebeugten Hüftgelenken auf dem Rücken liegt und so den Quadrizeps entspannt. Das Knie wird vorsichtig ausgestreckt, während leicht von lateral mit beiden Daumen gegen die Patella nach medial gedrückt wird.
- Anschließend wird die Patella mit einer Orthese oder einer elastischen Bandage stabilisiert.
Therapieplanung
- Konservative Therapie: bei traumatischer Erstluxation ohne osteochondrales Flake nach Abwägung der individuellen Wahrscheinlichkeit einer Reluxation
- Je mehr Risikofaktoren vorliegen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Reluxation.
- Absolute OP-Indikation
- osteochondrale Flakefraktur
- nicht retinierbare Patellaluxation
- Luxationsfraktur
- Relative OP-Indikation
- Erstluxation mit hohem individuellem Risiko für eine Rezidivluxation III
- vollständig rupturiertes mediales patellofemorales Ligament (MPFL) bzw. mediales Retinaculum
- chondrale Flake-Fraktur
- freier Gelenkkörper
- rezidivierende Luxationen bzw. Rezidivinstabilität oder Subluxation
- Versagen der konservativen Behandlung
Konservative Therapie
- Nach Reposition Immobilisation des betroffenen Kniegelenkes
- Schienung für wenige Tage, z. B. bis zum Vorliegen der definitiven Diagnostik
- Dauer der Immobilisation und der Orthesenversorgung hat keinen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit einer Reluxation.
- anschließend 4-Punkte-Orthese mit stufenweise limitierter Flexion für einen Zeitraum von insgesamt 6 Wochen nach dem Unfallereignis
- währenddessen Teilbelastung der betroffenen Extremität und ggf. leitliniengerechte Thromboseprophylaxe (abhängig von individuellen Risikofaktoren)
- Schienung für wenige Tage, z. B. bis zum Vorliegen der definitiven Diagnostik
- Frühzeitiger Beginn isometrischer Kräftigungsübungen der Streckmuskulatur unter besonderer Berücksichtigung des M. vastus medialis
- Übergang zur funktionellen Nachbehandlung 6 Wochen nach dem Unfallereignis
Operative Therapie
- Häufigstes Verfahren
- Wiederherstellung des medialen Patellahalteapparates in arthroskopischer oder offener Technik
- Augmentation des MPFL (MPFL-Plastik mit autologem Sehnentransplantat) zeigt geringere Reluxationsraten im Vergleich zur MPFL-Naht.
- Ergänzende Verfahren (Auswahl)
- Realignment (Osteotomie bei schweren Torsions- oder Achsfehlern)
- Bergung oder Fixierung osteochondraler Fragmente
- Trochleaplastik bei schwerer Trochleadysplasie
- Die isolierte Spaltung des lateralen Retinaculum („laterales Release“), wie es früher teilweise Standardverfahren war, scheint die Stabilität der Patella negativ zu beeinflussen, sodass dieses zur operativen Behandlung der Patellaluxation nicht zu empfehlen ist.
Weitere Maßnahmen
- Aspiration bei Hämarthros bzw. Erguss, da ein großer Gelenkerguss mit Kapselballonierung die Heilung des medialen Retinaculums verzögern kann.
Prävention
- Muskelaufbautraining
- Durch mediales Quadrizepstraining kann der Q-Winkel verringert und die Patella stabilisiert werden.
- Koordinationstraining
- Maßvolles Ausüben von Sportarten mit Hakenschlagen
- Aufwärmen der Muskulatur vor sportlicher Aktivität
- Optimale Ausrüstung beim Sport
- Allgemeine Unfallverhütung
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Reluxationsraten nach nichtoperativer Therapie 39–50 %, bei primärer operativer Therapie der MPFL-Verletzung ca. 7 % nach 2 Jahren
- Eine Patellaluxation, unabhängig vom Therapieregime, erhöht das Risiko für eine Retropatelllararthrose.
- auch nach operativer Therapie erhöhtes Arthroserisiko
Komplikationen
- Begleitverletzungen
- Verletzung des medialen patellofemoralen Ligaments
- chondrale/osteochondrale Abscherverletzungen/Knorpelschäden der medialen Patellafacette oder des lateraler Femurkondylus mit freiem Gelenkkörper
- Verletzung des M. vastus medialis obliquus
- Knochenmarksödem (Bone Bruise) der medialen Patella und/oder des lateralen Femurkondylus
- Patellofemorale Arthrose/Retropatellararthrose
- Reluxation
- Chronische Instabilität
Prognose
- Bei konservativer Therapie nach durchschnittlich 7,5 Jahren sehr gute und gute subjektive Ergebnisse bei 67–81 % der Patient*innen
- Bei operativer Therapie nach durchschnittlich 4,5 Jahren sehr gute und gute subjektive Ergebnisse bei 41–96 % der Patient*innen
- Die Prognose ist abhängig von den Begleitverletzungen, der Therapie, der Weiterbehandlung und Mitarbeit der Patient*innen.
- Leider oft dauerhafte Funktionseinschränkung des Kniegelenks, sodass nur etwa die Hälfte der Patient*innen nach 6 Monaten wieder das zuvor ausgeübte Sportniveau erreicht.
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
- Maenpaa H, Lehto MU. Surgery in acute patellar dislocation--evaluation of the effect of injury mechanism and family occurrence on the outcome of treatment. Br J Sports Med 1995; 29: 239. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Nelitz M. Patellar Instability and Dislocation: Diagnostics and Operative Therapy. Sports Orthopaedics and Traumatology 2020; 36(1): 70-73. www.sciencedirect.com
- Smith TO, Donell S, Song F, Hing CB. Surgical versus non-surgical interventions for treating patellar dislocation. Cochrane Database of Systematic Reviews 2015, Issue 2. Art. No.: CD008106. DOI: 10.1002/14651858.CD008106.pub3. DOI
Autor*innen
- Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Münster