Zusammenfassung
- Definition:Symptomenkomplex nach Absetzen oder Dosisreduktion von Antidepressiva mit raschem Auftreten innerhalb der ersten Woche nach Absetzen, spontaner Rückbildung innerhalb von ca. 2 Wochen und überwiegend milder Symptomatik.
- Häufigkeit:Keine zuverlässigen Daten.
- Symptome:Häufigste Symptome sind Schwindel, Benommenheit, Gleichgewichtsstörungen, Abgeschlagenheit, Kopfschmerz, Übelkeit und Erbrechen, Insomnie, Reizbarkeit.
- Diagnostik:Klinische Diagnose, keine apparative Diagnostik erforderlich.
- Therapie:Keine spezifische Therapie. Langsames Ausschleichen einer antidepressiven Medikation über mindestens 4 Wochen.
Allgemeine Informationen
Definition
- Symptomenkomplex nach Absetzen oder Dosisreduktion von Antidepressiva, charakterisiert durch:1
- unspezifische, überwiegend milde Symptomatik
- grippeähnliche Symptome, Kopfschmerz
- Schlafstörungen, Alpträume
- Übelkeit, Erbrechen
- Schwindel, Gleichgewichtsstörungen, Benommenheit
- stromschlagähnliche Missempfindungen
- Angst, Agitation, Reizbarkeit
- ggf. spezifisch serotonerge/cholinerge Syndrome
- enger zeitlicher Zusammenhang zum Absetzen (meist nach 36–96 h/ca. 3–5 Halbwertszeiten)
- vorübergehend; spontane Rückbildung je nach Halbwertszeit innerhalb von 2–6 Wochen
- rasche Besserung der Symptomatik bei Wiederaufnahme der Medikation.
- unspezifische, überwiegend milde Symptomatik
Häufigkeit
- Kaum Daten, die Angaben zur Häufigkeit liegen zwischen 1 und 86 %.2
Hintergrund
- Nach Besserung der Depression besteht häufig der Wunsch der Patient*innen nach Absetzen des den Antidepressivums (auch wegen der Nebenwirkungen).
- Bei 30–50 % der Patient*innen mit Medikation > 2 Jahre besteht keine eindeutige Indikation zur Einnahme mehr, sodass Absetzen eine Option ist.
- Gleichzeitig bestehen z. T. negative Erwartungen an ein Absetzen, z. B. auch durch Erfahrungsberichte im Internet.
- Ein drohender Teufelskreis aus Angst vor Nebenwirkungen des Antidepressivums, negativen Absetzerwartungen, Absetzbeschwerden und missglückten Absetzversuchen sollte möglichst durchbrochen werden.
Ätiologie und Pathogenese
- Die genauen pathophysiologischen Mechanismen sind noch ungeklärt.3
- Erhöhen der intrasynaptischen Konzentration von Serotonin, Noradrenalin oder Dopamin durch nahezu alle Antidepressiva
- Gegenregulation u. a. durch Reduktion der Anzahl postsynaptischer Rezeptoren sowie deren Sensitivität
- Bei plötzlichem Absetzen von Antidepressiva funktioneller intrasynaptischer Neurotransmittermangel als möglicher Auslöser von Absetzsymptomen
Mindestbehandlungsdauer mit Antidepressiva für das Auftreten eines Absetzsyndrom
- Die Mindestbehandlungsdauer für ein mögliches Auftreten eines Absetzsyndroms beträgt wahrscheinlich 4–8 Wochen.1
- Eine besonders lange Einnahme von Antidepressiva ist vermutlich nicht mit einem erhöhten Risiko für ein Absetzsyndrom verbunden.
Dauer eines Absetzsyndroms
- In der Mehrzahl der Fälle innerhalb von 2 Wochen selbstlimitierend
- Bei Antidepressiva mit längerer Halbwertszeit evtl. bis zu 6 Wochen
Häufigste Symptome eines Absetzsyndroms
- Es gibt zahlreiche und sehr unterschiedliche Symptome, was die Abgrenzung schwierig macht.
- Die häufigsten Symptome sind:1
- Schwindel/Benommenheit
- Gleichgewichtsstörungen
- Abgeschlagenheit
- Kopfschmerz
- Übelkeit, Erbrechen
- Insomnie
- Reizbarkeit.
Absetzsymptome mit Ähnlichkeit zu depressiver Symptomatik
- Aggression
- Angst
- Appetitlosigkeit
- Bauchschmerzen
- Benommenheit
- Erschöpfung
- Gedrückte Stimmung
- Innere Anspannung
- Kopfschmerzen
- Müdigkeit
- Rasche Stimmungsschwankungen
- Schlafstörungen
- Schwäche
- Schwitzen
- Unruhe
- Weinanfälle
- Zunahme von Suizidgedanken
Absetzsymptome ohne Ähnlichkeit zu depressiven Symptomen
- Gangunsicherheit und Gleichgewichtsstörungen
- Parästhesien, die sich z.B. wie elektrische Schläge anfühlen.
- Muskelschmerzen
- Tinnitus
- Geschmacksveränderungen
- Optische oder akustische Halluzinationen
- Verschwommenes Sehen
- Juckreiz
- Zittern
- Myokloni
- Ataxie
- Verwirrung und Gedächtnisstörungen
- Vorzeitige Ejakulation
Risiko für ein Absetzsyndrom bei verschiedenen Präparaten1
- Allgemein haben innerhalb einer Wirklasse Antidepressiva mit kurzer Halbwertszeit ein höheres Risiko für die Entwicklung und für eine stärkere Ausprägung von Absetzsymptomen.
- Hohes Risiko
- Paroxetin, Amitriptylin, Imipramin, Venlafaxin
- Moderates Risiko
- Citalopram, Escitalopram, Sertralin, Duloxetin, Vortioxetin
- Geringes Risiko
- Fluoxetin, Milnacipran, Agomelatin
- Unklar
- Mirtazapin, Bupropion, Tranylcypromin
Abgrenzung zu Rezidiv und Rebound
- Ein Absetzsyndrom sollte gegen ein Rezidiv der Erkrankung bzw. einen Rebound abgegrenzt werden.
- Rezidiv
- Nach Absetzen der Medikation kann es zum Rezidiv der Erkrankung kommen.
- Bei Patient*innen mit länger bestehenden depressiven Episoden ist 1 Jahr nach dem Absetzen die Rezidivrate rund doppelt so hoch wie unter fortgeführter Therapie.4
- Ein Rezidiv ist nicht zwingend, da Depression auch als Einzelepisode auftreten kann.
- Der zeitliche Verlauf kann bei der Abgrenzung helfen, sein, da Symptome des Absetzsyndroms in der Regel durch frühes Einsetzen, Fluktuationen und kurze Dauer mit spontaner Rückbildung gekennzeichnet sind.
- Rebound
- Rebound bedeutet eine erhöhte Anfälligkeit für die Grunderkrankung nach Absetzen der Medikation (vergleichbar mit dem Bild eines unter Wasser gedrückten Balles, der nach dem Loslassen bis über die Wasseroberfläche zurückspringt).
- Dadurch können folgende Phänomene entstehen:1
- Symptome der Grunderkrankung stärker ausgeprägt als vor Beginn der Behandlung
- erhöhtes Risiko für einen Rückfall im Vergleich zu Patient*innen ohne Medikation.
- evtl. zusätzliche psychopathologische Symptomatik, z. B. Angst- und Panikstörungen.
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Anamnese und klinischer Befund
- Spezifisches Risiko der antidepressiven Substanz für ein Absetzsyndrom
Anamnese und klinische Beurteilung
- Angesichts der Vielzahl möglicher Symptome hilft für die Erkennung eine Beurteilung mithilfe des englischen Worts „Finish“:
- Flu-like Symptoms (grippeähnliche Symptome)
- Insomnie (Schlafstörungen, intensive Träume/Albträume)
- Nausea (Übelkeit, Erbrechen)
- Imbalance (Gleichgewichtsstörungen, Schwindel)
- Sensory Disturbances (Stromschläge, Dysästhesien)
- Hyperarousal (Ängstlichkeit, Agitation, Reizbarkeit).
- Keine pathognomonischen Symptome
- Die Symptome sind häufig uneindeutig und variabel.
- Beginn typischerweise 2–4 Tage nach der letzten Dosis des Antidepressivums
- Die Abgrenzung einiger Symptome (z. B. Dysphorie, Schlafstörungen, kognitive Probleme, Müdigkeit) zu einem Relaps der Depression ist schwierig.5
- Rückbildung der Symptome innerhalb weniger Tage nach Wiederbeginn der Therapie bzw. vollständige Rückbildung der Symptome im Laufe von 1–2 Wochen
- Rezidiv der Depression in der Regel frühestens 2–3 Wochen nach Therapieunterbrechung
- Befragung der Patient*innen über:
- vergessene Dosen
- Dosisreduktion
- Absetzen der Therapie.
Differenzialdiagnosen
- Bipolare manische Episode
- Rezidiv der Depression
- Rebound
- Nebenwirkungen einer neuen Medikation
Indikationen zur Überweisung
- Unsichere Diagnose
Therapie
Konsequenzen für die antidepressive Therapie
- Das zunehmende Wissen über die Schwierigkeiten mancher Patient*innen beim Absetzen von Antidepressiva sollte zu einer vorsichtigeren Verschreibungspraxis führen.6
- Patient*innen sollten bereits zu Beginn einer Behandlung mit Antidepressiva über die Möglichkeit von Absetzsyndrom und Rebound-Phänomen aufgeklärt werden.1
- Weitergehende Information über:5
- Nichtvorliegen eines lebensbedrohlichen Zustands
- Reversibilität des Absetzsyndroms
- voraussichtliche Dauer von ca. 2 Wochen.
- Bei den meisten Antidepressiva ist ein langsames Ausschleichen zur Vermeidung eines Absetzsyndroms sinnvoll.1
- Ausnahmen: Fluoxetin und Agomelatin (kaum Risiko für Absetzsyndrom)
- Derzeit wird eine schrittweise Reduktion der Antidepressiva über einen Zeitraum von 8–12 Wochen empfohlen.
- Ein Cochrane-Analyse ergab nur wenig wissenschaftliche Evidenz für verschiedene Absetzstrategien.7
Absetzen von Antidepressiva
- Ist geplant, ein Antidepressivum bei remittierten Patient*innen am Ende des Erhaltungstherapiezeitraums oder zur Beendigung einer Rezidivprophylaxe abzusetzen, soll dies zur Vermeidung einer Rebound-Depression und von Absetzsymptomen schrittweise erfolgen.
- Am Ende einer Erhaltungstherapie oder einer Rezidivprophylaxe sollte das Antidepressivum über einen Zeitraum von mindestens 8–12 Wochen ausgeschlichen werden, wenn keine anderen Gründe dagegen sprechen.
- Ist geplant, ein Antidepressivum aufgrund von gefährlichen oder stark belastenden unerwünschten Arzneimittelwirkungen abzusetzen, soll dies rasch oder abrupt erfolgen.
- Nach Augmentations- oder Kombinationsbehandlung sollen die antidepressiven Medikamente nicht gleichzeitig, sondern nacheinander ausgeschlichen werden.
- Wenn während des schrittweisen Absetzens eines Antidepressivums Absetzsymptome auftreten, soll wieder auf die vorherige Dosierung erhöht und anschließend langsamer und, wenn möglich, mit kleineren Dosierungsschritten ausgeschlichen werden.
- Wenn sich das schrittweise Absetzen eines Antidepressivums aufgrund von Absetzsymptomen als schwierig oder nicht möglich erweist, kann erwogen werden, innerhalb der Antidepressiva-Gruppe zunächst auf ein in Tropfenform verfügbares Antidepressivum umzustellen und dieses dann besonders langsam und tropfenweise auszuschleichen.
- Bei SSRI kann alternativ erwogen werden, zunächst auf Fluoxetin umzustellen.
- Während des schrittweisen Absetzens eines Antidepressivums sollen die Patient*innen engmaschig auf Absetzsymptome und eine Verschlechterung/Neuauftreten eines depressiven Syndroms untersucht werden. Absetzsymptome sollen aktiv erfragt werden. Ein Kontakt sollte ca. 1 Woche nach jeder Dosisreduktion, mindestens aber alle 2 Wochen erfolgen.
- Nach der letzten Einnahme eines Antidepressivums soll der regelmäßige Kontakt mit den Patient*innen für mindestens 6 Monate fortgeführt werden, z. B. alle 4 Wochen.
- Bereits vor Beginn einer Antidepressiva-Medikation sollen die Patient*innen über die Möglichkeit von Absetzsymptomen und Rebound-Depressionen nach Beendigung einer solchen Medikation aufgeklärt werden.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Komplikationen
- Selten bedrohliche Absetzsymptome wie Suizidabsicht oder Aggression
- Kasuistische Berichte über langanhaltende Absetzsymptome mit Dauer > 1 Jahr
Verlauf und Prognose
- Auftreten meist innerhalb der 1. Woche nach Absetzen1
- Spontane Rückbildung innerhalb von 2(–6) Wochen (je nach Halbwertszeit)1
- Überwiegend milde, reversible Symptomatik1
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Literatur
- Henssler J, Heinz A, Brandt L, et al. Antidepressant withdrawal and rebound phenomena. Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 355-361. doi:10.3238/arztebl.2019.0355 DOI
- Davies J, Read J. A systematic review into the incidence, severity and duration of antidepressant withdrawal effects: Are guidelines evidence-based?. Addict Behav 2019; 97: 111-121. doi:10.1016/j.addbeh.2018.08.027 DOI
- Tondo L, Baldessarini R. Discontinuing psychotropic drug treatment. BJPsych Open 2020; 6: e24. www.cambridge.org
- Lewis G, Marston L, Duffy L, et al. Maintenance or Discontinuation of Antidepressants in Primary Care. N Engl J Med 2021; 385: 1257-1267. doi:10.1056/NEJMoa2106356 DOI
- Warner CH, Bobo W, Warner C, Reid S, Rachal J. Antidepressant discontinuation syndrome. Am Fam Physician 2006; 74: 449-56. PubMed
- Horowitz M, Wilcock M. Newer generation antidepressants and withdrawal effects: reconsidering the role of antidepressants and helping patients to stop. Drug Ther Bull 2022; 60: 7-12. doi:10.1136/dtb.2020.000080 DOI
- Van Leeuwen E, van Driel M, Horowitz M, et al. Approaches for discontinuation versus continuation of long-term antidepressant use for depressive and anxiety disorders in adults. Cochrane Database Syst Rev 2021; 4: CD013495. doi:10.1002/14651858.cd013495.pub2 DOI
Autor*innen
- Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.